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Neuromuskuläre Erkrankungen

Wenn die Diagnose den Tod ankündigt

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Im Interview stellt der Neurologe Ap. Prof. Priv.-Doz. Dr. Hakan Cetin, Oberarzt am AKH Wien, die bislang unheilbare Erkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) vor – und er berichtet über Entwicklungen bei ihrer Behandlung.

Dr. Hakan Cetin, Stationsführender Oberarzt an der Universitätsklinik für Neurologie, AKH Wien

Ap. Prof. Priv.-Doz. Dr. Hakan Cetin

Stationsführender Oberarzt an der Universitätsklinik für Neurologie, AKH Wien

Diagnose ALS – Womit haben Betroffene es zu tun?
ALS ist eine noch unheilbare Erkrankung, bei der sogenannte Motoneurone verschleißen. Das sind Nervenzellen im zentralen Nervensystem (Gehirn, Rückenmark), die die Muskulatur steuern. Infolgedessen kommt es zu Lähmungen, Krämpfen, Muskelschwäche und Muskelschwund – nach und nach fallen ganze Körperregionen aus. Die durchschnittliche Überlebenszeit nach Ausbruch der Krankheit liegt bei nur zwei bis drei Jahren.

Wie zeigt sich ALS?
Je nachdem, welche Motoneurone betroffen sind, können die muskulären Ausfälle nahezu überall im Körper auftreten: Zum Beispiel lassen sich die Füße nicht heben, sodass sich der Gang verlangsamt und man häufig stolpert. Oder der Nacken wird unbeweglicher, die Hände ungeschickter. Mitunter treten zu Beginn auch Sprach- oder Schluckstörungen auf.

Wie ist der typische Verlauf?
Wegen der Vielfalt möglicher erster Anzeichen wird ALS oft nicht gleich als Ursache der Beschwerden vermutet – bis zur Diagnose dauert es im Schnitt ein Jahr. Das ist wertvolle Zeit, die den Betroffenen für eine Behandlung verloren geht.

Wer ist typischerweise betroffen?
Von 100.000 Menschen sind 9 betroffen; das macht in Österreich etwa 900 ALS-Patient:innen. Männer erkranken etwas häufiger daran als Frauen. Meist tritt die Krankheit zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr auf, doch ich betreue auch 20- und 90-jährige Erkrankte. Die Ursachen für ALS sind noch nicht voll erforscht. Bekannte Risikofaktoren sind das männliche Geschlecht und wahrscheinlich auch Rauchen und wiederholte Kopfverletzungen.

Kopfverletzungen?
Ja, wiederholte Kopfverletzungen scheinen das Risiko einer Erkrankung gering zu erhöhen, so erklärt man sich unter anderem das gehäufte Auftreten der ALS bei Fußball- und Footballspielern. Der Mechanismus dahinter ist allerdings noch nicht vollends klar. Grundsätzlich sind ALS-Patient:innen überdurchschnittlich gesund und sportlich.

Gibt es erbliche Formen?
Bei zehn Prozent der Fälle wird ALS von Generation zu Generation vererbt. Das heißt, bei 90 Prozent tritt sie dagegen sporadisch auf.

Wie wird ALS diagnostiziert und behandelt?
Bei Verdacht auf ALS lässt sich die Krankheit anhand der sichtlichen Beschwerden und einer neurologischen Untersuchung bzw. mittels elektrophysiologischer Verfahren wie der Elektromyografie (EMG) feststellen. Inzwischen stehen auch spezifische Biomarker zur Verfügung, die im Blut untersucht werden und bei der Diagnose hilfreich sind. Bildgebenden Verfahren wie das MRT sind auch wichtig, um andere Erkrankungen auszuschließen, die sich mit ähnlichen Symptomen präsentieren können. Noch gibt es keine Behandlung, die ALS heilt. In Europa ist seit Langem nur ein Medikament zugelassen, dessen Wirkstoff die Überlebenszeit der ALS-Patient:innen etwas verlängert. Deshalb liegt der Fokus derzeit noch auf der Behandlung der individuellen Beschwerden, die Betroffene haben. Hier geht es zum Beispiel um die ausreichende Kalorienzufuhr. Dazu muss man wissen, dass ALS den Stoffwechsel ankurbelt. Infolgedessen verlieren die Betroffenen schnell an Gewicht, was sie zusätzlich schwächt. Verhindern Schluckbeschwerden die natürliche Nahrungsaufnahme, kann eine Magensonde zum Einsatz kommen. Wird das Atmen zu schwer, helfen nicht-invasive und invasive Beatmungsmaßnahmen. Hinzu kommen Physio- und Ergotherapien, Schmerztherapien und ganz wichtig: die psychologische Betreuung.

Was wünschen Sie sich für Ihre ALS-Patient:innen?
Mit der Diagnose überreiche ich meinen Patient:innen die Nachricht vom zunehmenden Ausfall ihres Körpers und baldigen Tod. Ich wünsche mir daher mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung für die ALS-Patient:innen, sodass Diagnose und Behandlung rascher erfolgen und Betroffene besser versorgt werden können. Dazu braucht es insbesondere mehr physiotherapeutische, psychotherapeutische, aber auch palliativmedizinische Ressourcen.

Die Ice-Bucket-Challenge in den Social Media brachte der Erforschung von ALS im Jahr 2014 viel Geld1 ein – und damit einen spürbaren Schub in der Forschung: Ein neues vielversprechendes Medikament ist in den USA und Kanada bereits vorzeitig zugelassen. In Europa werden die Phase-III-Studiendaten abgewartet, um dann die Zulassung zu prüfen. Und dann ist da noch die Geschichte von Anna K. aus Deutschland2, die an einer genetischen Form der ALS leidet und jüngst erstmals zeigte, dass die Erkrankung nicht nur gebremst, sondern auch umgekehrt werden konnte. Das gibt Hoffnung.

1 https://www.als.org/stories-news/ice-bucket-challenge-dramatically-accelerated-fight-against-als
2 https://www.tagesanzeiger.ch/medizinisches-wunder-anna-kann-wiedertreppen-steigen-undetwas-durch-die-naseatmen-295585217116

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