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Stell dir vor, du verlierst morgen deine Stimme…

Foto: Gavin Gough, Florentina Olareanu

Nora Sophie Aigner

Patient Advocate & Journalistin

Foto: Raimund Nics

Stell dir vor, du verlierst morgen deine Stimme, was würdest du heute sagen? Diese Frage habe ich mir vor meiner Erkrankung nie gestellt. Ich war es gewohnt, jederzeit kommunizieren zu können, – so oft und so lange ich wollte – bis ich eines Morgens mit starken Schmerzen im Hals erwachte und plötzlich nicht mehr sprechen konnte. 

Ein Marathon zu vielen Ärzt:innen beginnt 

Erst viele Monate und Besuche bei Ärzt:innen später erhielt ich meine Diagnose: das äußerst seltene „Eagle-Syndrom“, mit einer Betroffenheitsrate von nur 0,16 Prozent der Menschen weltweit. Überlange, spitze Knochenfortsätze ragten von der Schädelbasis in meinen Hals hinein und verletzten dabei wichtige Hirnnerven, Muskeln und Blutgefäße. Diese Verknöcherung verursachte permanenten Schmerz im gesamten Hals-Nacken-Gesichts-Kopfbereich sowie Schluck- und Stimmstörungen. Da man zuvor lange vermutet hatte, meine Symptome wären psychischer Ursache, verlor ich zu dieser Zeit jegliches Vertrauen in mich selbst und in andere Menschen. Damals, also vor sechs Jahren, war ich 21, eine ursprünglich lebensfrohe Studentin der Uni Wien, und steuerte eigentlich gerade auf meinen Abschluss zu. Doch die Erkrankung stellte alles auf den Kopf. Anstatt zu lernen und Student:innenfeste zu besuchen, musste ich mich im Internet vernetzen und eigenständig über die Risiken von unterschiedlichen Behandlungsmethoden informieren.  

Es war eine harte Zeit, geprägt von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ich hatte stets das Gefühl, mich vor dem medizinischen Personal für meine „nicht zuordenbare“ Symptome rechtfertigen zu müssen. War ich nicht „überzeugend“ genug, musste ich damit rechnen, als Hypochonderin zu gelten, die sich alles nur einbildet, und mit meinen Schmerzen wieder nachhause gehen.  

Rückhalt von Herzensmenschen 

Was mir in dieser Situation geholfen hat, war der Beistand der Familie und engster Freunde. Nicht nur, dass sie das Reden für mich übernahmen, auch ihr emotionaler Rückhalt hat mir Kraft gegeben, sonst hätte ich nie bis zur Diagnose durchgehalten. Sätze von nahestehenden Personen wie „Ich glaube dir“ oder „Wir suchen gemeinsam nach einer Lösung“ waren Gold wert. Was mir gefehlt hat, waren Verständnis und Empathie von Ärzt:innen sowie deren aufrichtige Initiative, meiner vermeintlich „unerklärlichen“ Symptomatik auf die Spur zu kommen. Was in so einem Fall für Betroffene wichtig ist, ist trotzdem dran zu bleiben und sich nichts einreden zu lassen, was der eigenen Körperwahrnehmung widerspricht. Leider ist man in einer solchen Situation jedoch abhängig von Fachleuten, die diverse Untersuchungen/medizinische Interventionen/Therapieversuche einleiten müssen. Auch finanziell ist es sehr belastend, da nicht alle Verfahren von der Krankenkassa bezahlt werden.  

Leidensdruck 

Um den Leidensdruck bewältigen zu können, sollte man seine Sorgen jemandem anvertrauen können. In meinem Fall war dies schwierig, weil ich wegen meiner Schmerzen kaum sprechen konnte. Abgesehen davon werden die Hemmungen für einen selbst immer höher, je länger man keine bestätigte Diagnose hat. Die Angst, abgelehnt oder nicht ernst genommen zu werden, wächst schnell. Sehr oft führt das in die Selbstisolation, wie es auch bei mir der Fall war. Ich hatte den Eindruck, das Leben der anderen würde weitergehen, während ich nicht mehr Teil der Gesellschaft wäre.  

Eine lange Reise 

Meine Diagnose brachte letztendlich Erleichterung mit sich, weil sie bewies, dass ich mich nicht getäuscht hatte, sondern tatsächlich an einer ernstzunehmenden Erkrankung litt. Ich konnte meine Schmerzen endlich beim Namen nennen. Dennoch wurde mir auch bewusst, dass dies erst der Anfang einer langen, nervenaufreibenden klinischen Reise war. Mein Zustand machte Spitals- und Therapieaufenthalte sowie zwei prekäre Operationen unumgänglich. Ich reiste außerdem für spezielle Therapien über 45-mal in verschiedenste Städte auf der ganzen Welt. 

Zurück in Österreich unterzog ich mich vielen Ersatzbehandlungen, um mein Studium wieder aufnehmen und abschließen zu können. Die prägende Zeit bis zur Diagnosefindung, klinisches Labeling und Stigmatisierung veranlassten mich deshalb dazu, eine wissenschaftliche Studie über die sozialen Folgen dieser „Rare Disease“ an der Uni Wien durchzuführen. Sie ist international die erste ihresgleichen. Patient:innen aus fünf verschiedenen Kontinenten nahmen daran teil.  

Die Kampagne 

Da ich nun auch über die Belastungen anderer Betroffener Bescheid wusste, beschloss ich, eine Aware-ness-Kampagne zu initiieren –  
mit dem Ziel, gesellschaftliches Bewusstsein für diese zu schaffen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie oft man dazu tendiert, sich für sein „Anderssein“ zu schämen, und sich deshalb ausgegrenzt fühlt. Mit meiner medialen Präsenz wollte ich anderen Mut machen.  

Auf YouTube veröffentlichte ich ein Video unter dem Titel #VoiceForNora. In diesem suche ich nach neuen Behandlungsmöglichkeiten, da meine tiefen intraoralen Operationsnarben nach wie vor große Probleme verursachen. Freunde verfilmten meine Geschichte in vier Minuten und prominente Persönlichkeiten wie Thomas Brezina, Viktor Gernot, Ursula Strauss etc. liehen mir dafür ihre Stimme.  

Seitdem ist viel passiert. Ich wurde zu TEDx Vienna eingeladen, um eine Rede zu halten, durfte spezielle Zelltherapien bei Dr. Weber in Deutschland machen und werde demnächst mein erstes Buch veröffentlichen. Es ist ein Band voller Gedichte, die in den letzten Jahren entstanden sind, und heißt: „Stimme der Hoffnung“. 

All diese öffentlichen Auftritte haben mich viel Überwindung gekostet, denn eigentlich bin ich eher eine zurückhaltende Person. Dennoch bin ich dankbar, im Zuge der Kampagne so viele liebe Menschen und auch engagierte Ärztinnen und Ärzte und (Physio-)Therapeut:innen kennengelernt zu haben. Und ich hoffe noch auf weitere Hilfe. Im Laufe meiner Geschichte habe ich erkannt, dass wir nicht für die Momente leben, in denen wir reden, sondern für jene, die uns sprachlos machen. 

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